Wie ich Corona zum Trotz einen Marathon zurücklegte: Ein persönlicher Erlebnisbericht

Meine Stimmung hätte kaum mieser sein können.

Am 29. März hätte ich in Freiburg sein müssen, um dort meinen Frühjahrsmarathon zu laufen. Dieser war ja jedoch wie alle anderen Laufveranstaltungen coronabedingt abgesagt worden. Umso schmerzlicher war es für mich, da ich so richtig gut in Form war, und außerdem hatte ich auch meinem Sohn die Teilnahme an der Veranstaltung zum Geburtstag geschenkt. So viele Sachen an dem Freiburg-Marathon waren erfrischend anders, verglichen mit anderen Stadtmarathons – die Maultaschen bei der Pasta-Party, oder die Hotspots mit Bands der unterschiedlichsten Musikrichtungen (von Klassik über Reggae und Pop bis Rock) – und der moderate Preis sowie die schön gestalteten T-Shirts überzeugten obendrein.
Als Trost blieb mir natürlich die Gewissheit: Du darfst dein Hobby immer noch ausüben. Die Liebhaber der meisten anderen Sportarten haben nicht so ein Glück…
…und dann passierte es während einer Trainingsrunde: ein plötzlich auftretender Schmerz in der rechten Ferse. Die Achillessehne! Lädiert setzte ich meinen Weg langsam und humpelnd nach Hause. Das war auch für das Laufen das einstweilige Aus.

Meine Stimmung war jetzt auf dem Nullpunkt.

Zum Glück war die Verletzung nicht so schlimm, wie ich zunächst befürchtet hatte. Schon am nächsten Tag konnte ich fast schmerzfrei wieder auftreten, und ich ging jeden Tag spazieren, eines Sonntags habe ich sogar den Radweg Rund um Dietzenbach (RuDi) – immerhin ca. 23 km – per pedes zurückgelegt.
Und dann kam mir die Idee. Du kannst nicht laufen, aber du kannst walken. Und wenn du 23 km walken kannst, ohne dass die Achillessehne aufmuckt, dann kannst du bestimmt auch 42,2 km walken. Der offizielle Marathon ist dir vergönnt: Aber du kannst einen persönlichen Walking-Marathon schaffen!
Kaum hatte ich den Gedanken gefasst, fing ich auch schon an, diesen in die Tat umzusetzen. Mein Plan war, die Strecke so zu gestalten, dass ich nach genau der Hälfte mein Lieblings indisches Restaurant in Frankfurt-Niederrad erreichen sollte, wo ich ein Gericht zum Mitnehmen bestellen und dieses auf der nächsten Parkbank verspeisen würde, um somit gestärkt den Rückweg anzutreten.
Laut Routenplaner beträgt der direkte Fußweg zum Restaurant nur 15,2 km – also deutlich zu kurz für mein Vorhaben. Also bastelte ich an einer neuen Route rum, bis ich meinte, eine gute Alternative gefunden zu haben. Dann stand sie fest: Ich würde am „Parkplatz“ über die B459 gehen, danach weiter über den Golfplatz und an Gut Neuhof vorbei nach Sprendlingen. Früher habe ich Sprendlingen gearbeitet, in dieser Zeit bin ich regelmäßig ins Büro geradelt, also kannte ich die Strecke bestens. In Sprendlingen war mein Plan, mich bis zur Frankfurter Straße durchzuschlängeln, dort rechts abzubiegen und somit Neu-Isenburg zu durchqueren. Von dort aus links über die Isenburger Schneise bis zur Commerzbank-Arena, und dann an den Bahngleisen entlang bis zur Spitzkehre Flughafenstraße/Golfstraße. Nach ca. anderthalb Kilometern kommt eine Stelle an der Golfstraße, wo die Straßenbeleuchtung aufhört. An diesem Punkt geht rechterhand ein Trampelpfad hoch zur Bürostadt Niederrad. Diesem Pfad wollte ich folgen, die Lyoner Straße überqueren, und dann meinen Weg zur Kleingartenanlage Waldfried bahnen, wo sich das Restaurant in idyllischer Umgebung befindet.
So weit, so gut: Der Plan stand, ich musste mein Vorhaben nur noch verwirklichen.
Gleich am nächsten Tag nach dem Frühstück packte ich meinen Rucksack und machte mich auf den Weg. Es war Freitag, der 17. April, ich hatte Urlaub, und wir hatten bestes Wetter. „Carpe diem!“ dachte ich mir. Für mein Abenteuer hatte ich einige Kleinigkeiten gepackt: einen Plastikbehälter und einen Löffel für das Essen, um unnötigen Müll zu vermeiden; einen Apfel und eine Tüte Nüsse als Wegzehrung; eine kleine Tube Sonnencreme; mein Portemonnaie und nicht zuletzt mein JobTicket und Firmenausweis für den Fall, dass ich abbrechen musste. Dazu eine Trinkflasche mit einem halben Liter Leitungswasser und ein vollgeladenes Handy fürs Tracking (ich besitze und benutze keine Laufuhr) sowie um Bilder zu schießen.
Der virtuelle Startschuss fiel um ca. 8:10 Uhr vor meiner Haustür. Ich schlug ein flottes Tempo an, denn ich war mit Shorts und T-Shirt (und einer Mütze) bekleidet, und bei Temperaturen um die 9 Grad war mir ein wenig kühl. Ich wusste aber, dass es auf meiner Odyssee warm werden würde, demnach hatte ich bewusst auf lange Klamotten verzichtet, die mir im Laufe des Tages nur zur Last fallen würden. Auf dem Weg nach Sprendlingen hielt ich einige Male an, um Bilder zu machen.

Unten am Golfplatz steht ein Baum in voller Blüte
Blick auf die Stangenpyramide

Kurz nachdem ich die A661 überquert hatte, sagte mir die Stimme aus meinem Handy, dass ich 7 km zurückgelegt hatte. Ein Sechstel des Weges hatte ich schon hinter mir! Ich war froh und glücklich: Überall waren die Wiesen und Bäume in frischem Frühlingsgrün bekleidet; herrlich duftete es nach Blumen und Blüten in allen Farben; Schmetterlinge und Bienen waren unterwegs; Vogelgezwitscher war rundum zu hören. Die Eindrücke änderten sich in den städtischen Gebieten von Sprendlingen und Neu-Isenburg. Ich hatte diesen Weg aber bewusst gewählt, damit ich notfalls irgendwo meine Wasservorräte auffüllen konnte. Das hatte sich aber als nicht nötig herausgestellt, denn ich hatte bisher noch keinen einzigen Schluck gebraucht.
An der Isenburger Schneise war ich froh, dass ich einem Trampelpfad an der P&R folgend, die unter die A3 führt, das städtische Getümmel hinter mir lassen konnte. Weiter ging es zu einem der schönsten Naherholungsgebieten Frankfurts: zum Jacobiweiher. Ich liebe den Jacobiweiher: Hier sind nicht nur die üblichen Wasservögel wie Stockenten und Blässhühner anzutreffen, es gibt auch Kormorane und die schnuckeligen Mandarinenten – und nicht vereinzelt, sondern es gibt eine ganze Kolonie davon. Hier legte ich nach ca. 14 km eine kurze Trinkpause ein und genoss den wunderschönen Blick.

Am Jacobiweiher – eine Oase mitten im Frankfurter Stadtwald
Während meiner Trinkpause watschelt ein Mandarinentenpärchen direkt an mir vorbei

Ich setzte meine Reise durch den Frankfurter Stadtwald fort. In Höhe der Eisenbahnbrücke stieß ich wieder auf die Isenburger Schneise. Auf dem Gelände des Leonardo Hotels führt ein Trampelpfad an den Bahngleisen vorbei über die B44 bis zum Stadion. Dorthin und dann rechts an der Straßenbahnstation Stadion vorbei bahnte ich meinen Weg. So kam es, dass ich um ca. 11:15 Uhr die Spitzkehre Flughafenstraße/Golfstraße erreichte. Dort hielt ich inne. Erinnerungen an die Zeit vor dem Corona-Lockdown kamen hoch, und ich fühlte mich an den 8. März zurückversetzt. An diesem Tag hatte ich genau an dieser Ecke gestanden, um die Teilnehmer des Frankfurter Halbmarathons auf dem letzten Kilometer vor dem Ziel anzufeuern. Das sollte die letzte Laufveranstaltung sein, die noch stattfinden durfte, bevor das öffentliche Leben zurückgefahren wurde. Ich selbst hatte auf den Start verzichtet, weil er mir nicht in den Marathontrainingsplan passte: Meinen 30-km-Vorbereitungslauf hatte ich schon am Vortag absolviert.

Spitzkehre Flughafenstraße/Golfstraße

Solche Erinnerungen begleiteten mich auch, als ich meinen Weg an der Golfstraße entlang fortsetzte. Denn auch am 8. März hatte ich irgendwann meinen Posten verlassen und diese Richtung eingeschlagen.
…Ungefähr hier hatte ich Brian [meinen Vereinskollegen] gesehen ihm lautstark zugerufen…
… Das muss die Stelle gewesen sein, wo diese junge Frau ihrem Begleiter völlig genervt angebrüllt hat: ‚Wie weit ist es denn noch bis zu diesem Sch**-Stadion!‘ …
Kurz vor 12:00 Uhr erreichte ich die große „Halbmarathon-Verpflegungsstelle“. Ich bestellte mein Essen und ging auf die Toilette, wo ich unter anderem noch etwas Wasser trank und meine Wasserflasche auffüllte, die ich inzwischen doch geleert hatte. Während ich draußen wartete, brachte mir der Chef einen Becher leckeren Mango Lassis „on the house“.

Das wie immer köstliches Essen verspeiste ich auf einer nahegelegenen Parkbank, dann machte ich mich auf den langen Heimweg. Ermüdungserscheinungen hatte ich keine, auch die Achillessehne muckte keineswegs auf, und ich war zuversichtlich, dass ich den langen Marsch, der noch vor mir lag, gut bewältigen würde.
Den Rückweg gestaltete ich etwas anders. Zunächst machte ich einen Abstecher über den Tiroler Weiher, wo das Grüngürteltier beheimatet ist. Einen kleinen Rückschlag erlitt ich bei dem Versuch, einen anderen Weg zurück zum Jacobiweiher einzuschlagen. An der Isenburger Schneise führt ein Pfad an der Bahnstrecke zwischen FFM-Louisa und Neu-Isenburg entlang. Nach einigen Hundert Metern stößt man auf einen Bahnübergang, den ich überqueren musste. Dieser Übergang war aber gesperrt. Da mein Handy-Akku schon etwas niedrig war, wollte ich nicht unbedingt mit Google-Maps eine Alternativroute suchen, also kehrte ich zur Isenburger Schneise zurück und wählte den Rückweg über das südliche Ufer des Jacobiweihers.

KM 27: So war das aber nicht geplant!

Ich hatte beschlossen, nicht wieder über die Stadt Neu-Isenburg zurückzugehen, also bog ich stattdessen in den Gravenbruchring ein. Der Gravenbruchring verläuft parallel zur A3 in Richtung Offenbacher Kreuz, rechterhand auf dem Rad-und Gehweg ragen die Bäume des Frankfurter Stadtwalds empor, linkerhand geht man zunächst an dem Stadtrand von Neu-Isenburg und später an Kleingartenanlagen vorbei. Jetzt merkte ich auch, dass ich viel mehr Durst hatte als vorher. Es war jetzt auch viel wärmer als am Vormittag, und immer wieder setzte ich meine Mütze ab, bis ich letztendlich das inzwischen als lästig empfundene Kleidungsstück in meinen Rucksack verstaute. Auf der Höhe der Zufahrt zum Sonnenhof war die Trinkflasche schon ganz leer, und ich hatte noch 10km vor mir. Mein Gang war jetzt längst nicht mehr so spritzig wie anfangs, zudem sah ich mich gezwungen, noch etwas Tempo rauszunehmen, um die Achillessehne zu schonen. Weiter ging es auf dem Geh-und Radweg in Richtung Dietzenbach, vorbei an der Autobahnmeisterei und durch das Außengelände des Kempinski-Hotels. Die Beine wurden immer schwerer. „Jetzt fängt mein Marathon an!“, dachte ich mir. Genauso, wie beim richtigen Marathon: Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man einen inneren Kampf austrägt zwischen dem Willen, weiterzumachen und dem Verlangen, aufzugeben. Mit 35km überquerte ich die L3117: Mir fehlten noch 7km, das letzte und zugleich das schwerste Sechstel, aber endlich war ich wieder „auf heimischem Boden“, und daraus schöpfte ich Mut. Irgendwann fiel mir ein, dass ich im Rucksack noch einen Apfel hatte. Der würde doch meinen Flüssigkeitsbedarf etwas ausgleichen! Und tatsächlich – zu meiner eigenen Überraschung – hatte ich nach dem Verzehr dieses Obststücks keinen Durst mehr. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten!
KM 41 erreichte ich zufälligerweise genau an unserem Lauftreffschild.


Um die 42,2 Kilometer zu schaffen, konnte ich nicht auf direktem Weg nach Hause gehen, sondern musste einen kleine Bogen um die Häuserblocks machen. Und dann war es soweit: mit einer Fanfare wurde das Erreichen der Zieldistanz angekündigt. Ich war ganz überwältigt. Ich hatte es geschafft! Und irgendwie bedeutete mir dieser Erfolg bei meinem persönlichen Walking-Marathon in diesen seltsamen Zeiten genauso viel, wie das Finishen eines normalen Marathons. Die Strecke hatte ich in einer Nettozeit von 7 Stunden und 12 Minuten (5,8 km/h) bewältigt.
Am 25. April lag ein Päckchen für mich im Briefkasten. Es war das Finisher-T-Shirt des Freiburg Marathons. Dieses T-Shirt wird jetzt einen besonderen Stellenwert in meinen Laufsouvenirs einnehmen: Es wird mich immer daran erinnern, wie ich eine misslichen Lage in einen Erfolg umkrempelte. Das Conornavirus hatte mir zwar den Freiburg-Marathon verdorben, aber meinen persönlichen Walking-Marathon konnte er mir nicht nehmen.